Interview mit Prof. Tirmiziou Diallo


"Europa muss aufhören, uns Fallen zu stellen"


Als Schüler hat Tirmiziou Diallo die Euphorie erlebt, als sich sein Heimatland Guinea von der Kolonialmacht Frankreich lossagte. Ein gutes halbes Jahrhundert später erinnert sich der Soziologe und Universitätsgründer an die großen Hoffnungen, die mit der Unabhängigkeit verbunden waren - und die fast allesamt enttäuscht wurden.


ARD.de: In diesem Jahr feiern 17 afrikanische Staaten den 50. Jahrestag ihrer Unabhängigkeit. Zeit für eine Zwischenbilanz: Wo steht Afrika heute? 

Tirmiziou Diallo: Es fällt mir sehr schwer, das zu sagen - aber ich sehe nicht viel, das zu feiern wäre. Wenn ich das, was wir in den vergangenen 50 Jahren in Afrika erreicht haben, mit den Hoffnungen vergleiche, die wir uns damals gemacht hatten - dann ist da ein meilenweiter Unterschied.


Welche Hoffnungen hatten Sie damals?

Um die zu verstehen, schildere ich Ihnen zunächst kurz die geschichtlichen Hintergründe der Unabhängigkeit. Charles de Gaulle, der französische General und spätere Staatspräsident, hatte seinen Kolonien innere Autonomie zugesichert, wenn sich diese vorerst nicht von Frankreich lösen. Doch Guineas Bevölkerung hat diesen Vorschlag 1958 als einzige Kolonie in einem Referendum abgelehnt und ist dadurch etwas früher formell unabhängig geworden. Dies war natürlich mit der Hoffnung auf eine konkrete wirtschaftliche, kulturelle und politische Eigenständigkeit verbunden. Es hat viele Bemühungen gegeben, diese Ziele zu verwirklichen.


Und das ist nicht gelungen?

Nein, Guinea und später viele weitere Ex-Kolonien waren politisch und militärisch einfach zu schwach. Gleichzeitig hat es die westliche Welt nicht gerne gesehen, dass diese afrikanischen Länder tatsächlich unabhängig wurden, da sie weiterhin an günstigen Rohstofflieferungen interessiert waren.


Wie würden Sie den heutigen Zustand beschreiben?

Die Beziehungen der afrikanischen Staaten zu den damaligen imperialen Ländern, hauptsächlich England, Frankreich und Portugal, haben sich kaum geändert. Es sind zwar Nationalhymnen komponiert und neue Fahnen gehisst worden, aber die erträumte wirtschaftliche, politische und kulturelle Unabhängigkeit ist nie umgesetzt worden. Keine oder kaum eine ehemalige Kolonie ist heute wirklich unabhängig. Entweder sie stehen unter dem Diktat der Weltbank und des Internationalen Währungsfonds - Institutionen, die ohne Afrikaner aufgebaut worden sind und deshalb auch nicht die Interessen Afrikas vertreten - oder sie stehen in Abhängigkeit zu anderen Ländern, meist zu ihren ehemaligen "Kolonialherren".


Welche Rolle spielen dabei die afrikanischen Machteliten?

Die so genannten Machteliten bestehen aus Menschen, die keine Zukunft sehen, die nicht aufbauen können, die permanent auf materielle und politische Hilfe des Westens angewiesen sind. Sie haben mit der eigenen Bevölkerung in den meisten Fällen nichts zu tun, sondern sie sitzen nur dort, um die Interessen der Industrienationen zu bedienen. Für mich ist es sogar noch schlimmer als die starke Abhängigkeit Afrikas von Europa, dass es die einstigen Kolonialisten geschafft haben, solche weder afrikanischen noch westlichen Machteliten aufzubauen, die die Entwicklung Afrikas blockieren. Angesichts dieser Situation haben weder Europa noch Afrika einen Grund, die 50-jährige so genannte Unabhängigkeit zu feiern.


Sie sagen, dass eine echte Unabhängigkeit einen Dialog auf Augenhöhe voraussetze. Wie beurteilen Sie die Chancen für einen solchen Dialog? 

Um auf Augenhöhe verhandeln zu können, müsste sich Europa zunächst von seinem Helfersyndrom befreien. So wie Deutschland mit anderen Industrieländern wirtschaftliche Beziehungen unterhält, auf der gleichen Grundlage sollte Europa wirtschaftliche Beziehungen mit Afrika führen. Beziehungen, in denen beide Parteien ihre eigenen Interessen formulieren können und die den Afrikanern den Raum geben, selbst zu bestimmen, welchen Weg sie einschlagen wollen.


Und wie ist es tatsächlich?

Afrika wird stattdessen ständig zum Bettler gemacht. Und wir haben mittlerweile in Afrika in der Tat eine Gruppe von Menschen erzogen, die nichts anderes kennen, als zu betteln. Aber nicht alle sind so. Es gibt viele, die mit Europa auf einer solidarischen Ebene zusammenarbeiten können und wollen. Aber im gegenseitigen Respekt.


Sie haben sich auch wissenschaftlich mit dem Thema "interkultureller Dialog" beschäftigt. Welche Erkenntnisse haben Sie dabei gewonnen? 

Ich habe bei meinen Studien mit einigem Schrecken festgestellt, dass Europa nicht bereit oder nicht dazu fähig ist, einen Dialog zu führen. Dialog ist immer ein reflexiver Prozess. Der Andere ist da, um mir die Möglichkeit zu geben, über mich selbst und die eigene Geschichte nachzudenken. Doch dazu sind viele Europäer nicht bereit. Und zwar einfach deshalb, weil sie sich ein Bild von der nicht-europäischen Welt gemacht haben, die sie als minderwertig betrachten. Auf diese Sichtweise hat Europa seine Macht gebaut. Ich vermute, dass Europa Angst hat, seine Position zu verlieren, wenn es sich auf einen Dialog einlässt. Die Selbsterkenntnis könnte zu schmerzhaften Einsichten für die Europäer führen, deshalb hinterfragen sie ihr Weltbild lieber erst gar nicht.


Tatsächlich alle Europäer?

Natürlich kann man nicht vom Europäer an sich sprechen. Es sind nur gesellschaftliche Tendenzen, die ich anspreche und interpretiere. Aber sehen Sie sich nur das Bild von Afrika an, das in der Geistesgeschichte des modernen Europas seit dem 18., 19. Jahrhundert entworfen wurde. Da gab es eine Zeit, in der sich die Europäer Gedanken darüber gemacht haben, ob man Afrikaner überhaupt missionieren kann. Man war davon überzeugt, dass sie keine Seele hätten - und wer keine Seele hat, der kann nicht missioniert werden. Das war die Vorstellung.


In den vergangenen 200 Jahren hat sich die Geistesgeschichte rasant entwickelt, viele alte Vorstellungen haben sich gewandelt. Warum glauben Sie, dass Europa seine herablassende Sichtweise auf Afrika konserviert hat? 

Wie ich darauf komme? Sehen Sie sich doch bloß die vorherrschenden Afrikabilder in der Gesellschaft an. Wenn europäische Medien über Afrika berichten, dann sieht man nur hungrige Kinder, nur Aids und HIV, nur Katastrophen. Positiv wird über Afrika nur dann gesprochen, wenn es um die dort lebenden Tiere geht. Das gilt übrigens nicht nur für die europäische Sichtweise auf Afrika, sondern für die Sicht der Europäer auf die ganze restliche Welt. Auch Asiaten und Araber oder auch Religionen wie der Islam gelten als minderwertig, aber Afrika nimmt traditionell immer die letzte Stelle in der Rangfolge ein


Was muss passieren, damit Afrika irgendwann tatsächlich politisch, wirtschaftlich und kulturell unabhängig wird? 

Um eins vorab klarzustellen: Eine totale Unabhängigkeit kann es nicht geben, es geht vielmehr um internationale Kooperationen auf Augenhöhe. Afrika kann sich nicht isoliert entwickeln, sondern muss dies im internationalen Konzert tun.


Was kann Afrika also tun, um künftig in diesem internationalen Konzert mitzuspielen?

Die afrikanischen Länder müssen zunächst einmal Ziele für die eigene gesellschaftliche Ordnung, die eigene Wirtschaft und die eigene Politik formulieren. Ich wünsche mir, dass sich die Afrikaner ihrer Kultur, ihrer Tradition und ihrer Geschichte bewusster werden, um sich mit diesem Selbstverständnis auch auf internationalem Parkett präsentieren zu können. So sind wir Guineer, wir sind Afrikaner, wir sind Menschen, die eine Geschichte haben, die eine Kultur, die eine Sprache haben und die der internationalen Gemeinschaft auch etwas zu bieten haben. Wir sind keine "halben Franzosen" und wollen es auch nicht sein. Wir besitzen nicht nur Rohstoffe, sondern auch Kultur. Darüber müssen wir uns klar werden.


Und dieses neue Selbstverständnis soll zur Grundlage für den anschließenden wirtschaftlichen und politischen Aufschwung Afrikas werden? 

Ja, ich gehöre nicht zu diesen Menschen, die sich hinsetzen und sagen: "Wir armen Afrikaner, man hat uns versklavt, man hat uns kolonialisiert", und so weiter. Das muss aufhören! Wir müssen in die Zukunft schauen - und uns gleichzeitig unserer Vergangenheit bewusst werden und sehen, was wir geleistet haben. Das ist der Ausgangspunkt für die Afrikaner, um weiterzukommen. Dann können sie auch mit Berechtigung sagen: "Wir wollen Demokratie. Und wir wählen uns die Form von Demokratie, die uns passt. Wir einigen uns auf unsere Definition von Gleichheit und von Freiheit." Aber dafür müssen die Afrikaner ihre Geschichte und ihre Kultur kennen. Das ist die Voraussetzung.


Auch wenn die Initiative für eine derartige Entwicklung von Afrika ausgehen muss - gibt es irgendetwas, das Europa beitragen kann?

Ich wünsche mir sogar, dass wir gemeinsam eine solche Zukunft aufbauen können, zumal ich länger in Europa gelebt habe als in Afrika. Dies kann jedoch nicht mit solchen Leuten wie dem einstigen ugandischen Schreckensherrscher Amin oder dem verrückten Bokassa, der sich zum Kaiser Zentralafrikas krönen ließ, geschehen. Solche Spinner und Massenmörder haben die Europäer doch nur an der Macht gelassen, um sagen zu können: "So sind sie, die Neger, die können sich nicht selbst regieren!" Das sind alles Fallen, Europa muss damit aufhören! Wir haben Menschen in Afrika, die in der Lage sind, dort richtige Demokratien aufzubauen.


Das Interview führte Ellen Hoffers


http://www.ard.de/kultur/afrika/tirmiziou-diallo-afrika/-/id=1416066/nid=1416066/did=1409674/12cb6cs/index.html